Gastbeitrag: Lasst Betroffene nicht allein!

Wir veröffentlichen hier einen aktuellen Text (PDF) einer Gruppe von Frauen aus Dresden. Er kritisiert nicht nur eine relevante Fehlstelle solidarischer Praxis in der linken Szene, sondern zeigt auch Schritte zu einem besseren Umgang mit sexuellen Übergriffen auf.

Insgesamt werden hier einige wichtige Fragen aufgeworfen, mit denen sich e*vibes auch seit längerem beschäftigt. Wir planen für das kommende Frühjahr eine Veranstaltungsreihe zum Thema sexualisierte Gewalt (als gesamtgesellschaftliches Problem, aber auch als eines der “linken Szene”). Wir hoffen dadurch, sowohl den Diskurs als auch die Praxis weiter voran bringen zu können. Unser erklärtes Ziel ist es, dass Aufrufe wie der folgende nicht mehr gebraucht werden, dazu erklären wir unsere Solidarität mit den Verfasserinnen!

 

Lasst Betroffene nicht allein!

Ein Beitrag zur Aufarbeitung sexueller Übergriffe in der Dresdner Linken

verfasst von einer Gruppe solidarischer Frauen.

Profeministische Standpunkte werden in linken Kontexten meist fleißig nach außen getragen, wodurch es scheint, als seien die wichtigsten Inhalte in der „Szene“ verinnerlicht und würden allein durch die richtig verwendeten Slogans deutlich gemacht.

Wie wenig davon jedoch tatsächlich von Einzelnen verstanden wurde, zeigt sich dann letztlich im gemeinsamen Wirken und politischen Miteinander linker Zusammenhänge. Wenn sich z. B. sexualisierte Übergriffe in linken Gruppen ereignen, offenbart sich, dass sicher geglaubte Mindeststandards keineswegs zur Anwendung kommen.
Theoretisch fundierte Praxen geraten aus dem Blick, Emotionalität gewinnt die Oberhand und die oft beschworene Solidarität wird zu einer Waffel.

Eine Politszene aber, die sich selbst als emanzipatorisch bezeichnet, muss ein alternativer „Raum“ zur patriarchalisch geprägten Gesellschaft sein – ein Raum, in dem Geschlechterrollen kritisch hinterfragt werden, in dem mit der Norm des (männlichen*) Zugriffs auf weibliche* Körper gebrochen wird, in dem, unter Zutun aller Beteiligten, identitäres Mackerverhalten sichtbar gemacht und dadurch kritisierbar wird. Nur so kann feministische Selbstermächtigung Gestalt annehmen und Solidarität funktionieren.

Was geschah?

Im Frühjahr letzten Jahres kam es in einem Bekanntenkreis der Dresdner linken „Szene“ zu
sexuellen Übergriffen. Die Betroffene suchte nach einiger Zeit Unterstützung und fasste den Mut, sich anderen anzuvertrauen.
Es hab ein Treffen zwischen dem Täter, der Betroffenen und einer Unterstützerin, wo das
Geschehene reflektiert und Absprachen bezüglich des weiteren Umgangs mit dem Vorfall auf Grundlage von Wünschen der betroffenen Person getroffen wurden. Das bedeutete zunächst vor allem die Etablierung von Schutzräumen. Der Täter zeigte sich einsichtig und kooperativ – was eine solide Grundlage dafür darstellt, mit einer solchen Situation wegweisend umzugehen.
Auch auf dem Plenum eines Arbeitskollektives, zu denen die Betroffene als Mitglied und der Täter als Freund gehörten, wurden die Vorfälle insofern thematisiert, als dass es diese Übergriffe gab und nun Schritte zu gehen wären, um der Betroffenen Schutzräume zu garantieren. Die betroffene Person bat außerdem darum, den Täter in ihren Arbeitsräumen auszuschließen, also auch hier temporäre Schutzräume zu etablieren. In anderen Räumen, die die beiden teilten, sollte der Täter der Betroffenen sensibel im Raum begegnen bzw. ihr respektvoll den Raum überlassen, wie z.B. bei Trainings im gemeinsamen Sportverein.

So weit, so gut?

Während sich einige wenige Personen des Arbeitskollektivs positionierten und sich (zunächst) solidarisch und betroffen zeigten, verweigerten einzelne Personen sich gar der Aufarbeitung im Plenum, indem sie dieses schlichtweg verließen. Mit dem Schweigen der Mehrheit wurden zunächst konkrete geforderte Punkte aufgenommen und deren Umsetzung beschlossen. Im Folgenden erhärtete sich der Eindruck, dass wenig Interesse an der aktiven Umsetzung bestand und die Anliegen der Betroffenen (und zum Teil auch sie selbst) als nervig, störend oder überzogen angesehen wurden.

Spätestens hier muss die Frage aufgeworfen werden, warum sich dieses Kollektiv keine
Unterstützung bei Awareness-Strukturen oder anderen Gruppen suchte, die diesen Prozess hätten adäquat begleiten können.

Vom Scheitern einer Selbstverständlichkeit

Was folgte, war des weiteren Klatsch und Tratsch, verquere Gerüchte, die hier und da aufploppten oder Indifferenz. Wie aber kann ich mich in einer „reflexiven Linken“ zurückhalten und mich einreihen in die zigfachen genau gleich abgelaufenen Fälle, in denen Frauen*, die Grenzüberschreitungen erfahren mussten, Solidarität verweigert wurde? In denen Meinungen wie „das war sicher nicht so schlimm“ eigentlich nichts anderes sagen als: „die soll sich mal nicht so haben“?

Darüber hinaus konnten viele den Konflikt, mit dem Täter befreundet zu sein, offenbar nicht anders auflösen als durch eine Entsolidarisierung mit der Betroffenen oder schlichtweg Ignoranz. Dabei ist es nicht schwer – gerade bei einem reflektierenden Täter – zu begreifen, dass auch hier dieses immer wiederkehrende polare, binäre Denken keinesfalls notwendig ist. Würde Freundschaft nicht bedeuten: „Ich nehme dich bei deiner Verantwortung, dass du riesige Scheiße gebaut hast. Ich spreche mit dir darüber und helfe dir, das, was dazu führt, dass du Frauen* angreifst, zu bekämpfen. Ich stehe dir in einer harten Zeit bei.“? Emanzipative Solidarität mit der Betroffenen bedeutet dann eben nicht nur einen respektvollen Umgang mit ihren Bedürfnissen, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Beitrag und der Betrachtung struktureller Kontinuitäten.

Aus dem Arbeitskollektiv, auf dessen Unterstützung die Betroffene fälschlicherweise gehofft hatte, wurde sie in den Folgemonaten hinausgedrängt. Die Gründe mögen vielleicht andere als der Übergriff gewesen sein, jedoch legen die zeitliche Nähe und verwandte Themen einen Zusammenhang nah. Der Betroffenen wurde das Vertrauen seitens vieler Mitglieder des Arbeitskollektives entzogen und bestimmte Jobs, die sie vorher wahrgenommen hatte, wurden ihr vorenthalten, weil sie „für diese nicht geeignet sei”. Statt sich also zu solidarisieren, entledigte sich das Kollektiv des ganzen unliebsamen Problems.

Bevor die Vereinbarungen eingehalten oder solidarisches Verhalten dem Dresdner Szeneklatsch zuvorkommen konnte, verlangten Einzelne bereits nach einem Schlussstrich. Entsprechende Forderungen, die zuvor vereinbarten Schutzräume aufzulösen und dem Täter wieder Zutritt zum Sportverein etc. zu “gewähren” wurden lauter. Obgleich sich so viele mit dem Thema zumindest als Gossip zu befassen schienen, griff niemand ein, wenn unangenehme Situationen auftraten – die Betroffene wurde vor denunzierenden Sprüchen und erniedrigenden Situationen nicht geschützt. Ohne viel Mühe ließe sich hier eine allseits bekannte Täter-Opfer-Umkehr nachzeichnen. Die Betroffene hat schließlich die Stadt verlassen. Welche Rolle der Übergriff und die folgende Zeit dabei spielte, kann nur sie selbst beantworten.

Offene Fragen

Uns ist klar, dass der Umgang mit einem so “leidigen” Thema innerhalb eines Netzwerkes
anstrengend ist, viele Nerven und Zeit kostet und möglicherweise auch dazu führen kann,
Freundschaften aufzukündigen. Aber fängt hier nicht die politische Praxis an, die wir regelmäßig großspurig auf Plakaten und Demos vor uns hertragen: “Feministisch, solidarisch, kämpferisch”, “My body, my choice”, “Lets get loud”, „Me too“?

Muss es nicht zum politischen Selbstverständnis gehören, auch Freund*innen, deren Verhalten und den zugehörigen Reflexionsstand kritisch zu hinterfragen, wenn es dann mal loud wird? Gehört es nicht zum politischen Selbstverständnis, Bewusstseinsbildung und eine emanzipierte “Weiterentwicklung” zu fördern und vor allem zu fordern?

Können nur im Feierkontext Menschen unterstützt und geschützt werden, weil die Party irgendwann beendet wird? Aus den Szeneaugen aus dem Szenesinn?
Schlussendlich: wieso bedarf es – schon wieder oder immer noch – einer Frauengruppe, um solche Fragen aufzuwerfen und Präsenz sowie Öffentlichkeit für das Thema der sexuellen Übergriffe zu schaffen? Müssen wir wirklich nochmal daran erinnern, dass das Ziel der Emanzipation die legale, physische und psychische Selbstbestimmung aller sein muss? Dass der scheinbar lapidare Zugriff auf den weiblichen Körper in Form derartiger Übergriffe und das mangelnde Ernstnehmen als solche die plakativste Ausübung patriarchaler Gewalt ist?

Was bleibt zu tun?

Wir möchten hiermit nicht nur die mangelnde Aufarbeitung innerhalb des Arbeitskollektivs und der „Dresdner Szene“ kritisieren. Wir appellieren gleichermaßen an den Freundeskreis des Täters und alle anderen Menschen, die sich als Teil einer solidarischen Linken verstehen, sich dieser Problematik anzunehmen. Unser aller Aufgabe ist es, sich mit dem Thema sexualisierter Gewalt auseinanderzusetzen und den gesellschaftlichen Verhältnissen, die auch vor „unserer“ Szene nicht Halt machen, entgegenzutreten. Denkt darüber nach, wenn ihr das nächste Mal brüllt: „Wer schweigt, stimmt zu!“.

Die grundsätzliche Auseinandersetzung mit feministischen Positionen ist entgegen mancher Verlautbarung kein Hindernis in der Entwicklung einer radikalen Linken, sondern notwendiger Bestandteil. Deshalb bedarf es weiterhin eines aufklärerischen Wirkens feministischer Kreise in die linke Szene hinein!

Männer* dürfen sich nicht ausklammern, weder im Aufwerfen von unangenehmen oder langwierigen Fragen, noch im eigenständigen Anbieten von solidarischer Unterstützung gegenüber Betroffenen.

Und Frauen, die, mal abgesehen von den alltäglichen Belästigungsszenarien, ganz genau wissen, wie hart es sein kann, sich in einer männerdominierten Linken zu positionieren, dürfen nicht der Verunglimpfung von Betroffenen frönen, nur um den eigenen Status zu sichern!

Wir alle müssen in der Lage sein, solche Vorfälle sichtbar zu machen und ihre Aufarbeitung zu ertragen. Wir müssen sie thematisieren, in ihrer Wurzel greifen und kritisieren. Wir müssen mit der hier praktizierten Norm des Totschweigens und aus-der-Stadt-Treibens brechen und unsere ganz eigene Handlungsfähigkeit erkennen. Es braucht eine Auseinandersetzung darum, wie eine konstruktive Arbeit mit der Täterperson aussehen kann.

Weil wir solche eine Praxis nicht allein entwickeln können, wird es zeitnah eine unterstützende Veranstaltung geben. Mit einer Gruppe aus Leipzig planen wir einen Workshop, um gemeinsam mit anderen interessierten Personen und Kollektiven Strategien zu entwickeln, wie zukünftig auf Vorfälle dieser Art adäquat reagiert werden kann. Bestenfalls soll dabei ein Leitfaden entstehen, wie ihn wohl auch das malobeo ausarbeitet. Die Beteiligung des oben genannten Arbeitskollektives wird damit ausdrücklich gewünscht und die Forderung nach dem Aufarbeiten dieser Misere ganz besonders betont!

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